„Herbst“, 1960, Öl auf Leinwand auf Karton, 43 x 33 cm

1. Als ich Minas Avetisyans berühmtes, 1960 entstandenes Bild seines Heimatdorfes „Djadjur“ zum ersten Mal sah, war ich so fasziniert, daß ich sofort beschloß, dorthin zu fahren. An diesem Ort spürte und begriff ich, wie wichtig seine Wurzeln für seine Entwicklung als Mensch und Künstler waren. Die ganz speziellen Farben, die Proportionen, die Vibrationen versuchte ich, in Musik zu übertragen.
2. Khatchkarer (Kreuzsteine) sind für mich das Symbol schlechthin für Armenien. Über das ganze Land verstreut stehen tausende in Stein gehauene Kreuze, in unendlichen Variationen. Armenien war das erste Land, welches A.D. 301 das Christentum als Staatsreligion annahm. Es ist kein Zufall, daß einer der häufigsten armenischen Familiennamen, Khatchaturian, das Wort „Khatch“ (Kreuz) enthält. Mein Anliegen war, die Spannung zwischen der Horizontalen und der Vertikalen, die sich im Kreuz ausdrückt, in Musik umzusetzen.
3. In Minas´ Atelier gab es einen Brand, bei dem wichtige Bilder vernichtet wurden. Die Ursache ist bis heute nicht geklärt. „Das Feuer“ beinhaltet für mich diese Katastrophe, gleichzeitig aber auch das Lodern der Inspiration des Künstlers. 4. Was bleibt nach dem Feuer? Für mich nur: Stille. „Die Stille“ von 1963 ist ein weiteres bekanntes Bild von Minas. Es zeigt wiederum Djadjur, die Farben sind ähnlich wie in dem berühmten Bild, aber der Ausdruck und die Atmosphäre sind ganz anders. Was dort fauvistische mittelalterlichen armenischen Chorals, in verfremdeter Instrumentation, sollen das zum Ausdruck bringen.
5. Minas hat oft erzählt, wie seine Mutter ihm nachschaute, wenn er zu Fuss Djadjur verliess. Ihre Blicke folgten ihm lange, selbst dann noch, als er schon am Horizont verschwunden war. Dieser „Lange Blick der Mutter“ findet sich in einigen seiner Bilder wieder, die ich die emotionalsten finde, und die mich besonders berühren.

Als ich mich entschloss, dem Maler Minas Avetisyan eine Komposition zu widmen, fühlte ich intuitiv, daß ich Streicher und Schlagzeug verwenden wollte (schließlich wurde es dann ein Stück für Streichquartett und zwei Schlagzeuger, die auf vielen verschiedenen Schlaginstrumenten spielen). Ich fand für dieses Gefühl keine Erklärung. Viel später erzählte mir einer seiner Söhne, als wir in Minas´ nach wie vor intaktem Atelier waren und seine letzten, unvollendeten Bilder anschauten, daß er als Kind immer gerne seinem Vater beim Malen zuschaute. Er schlich sich auf die Rückseite der Staffelei, und lauschte dem Klopfen des Pinsels auf die Leinwand. Sein Vater arbeitete nämlich oftmals mit schnellen, kurzen Tupfern, so daß der Sohn an eine Trommel denken mußte. Ich fühlte mich im nachhinein in der Wahl der Instrumente meiner Komposition bestätigt. Am Anfang des ersten Satzes spielen die zwei Schlagzeuger hinter der Bühne, wie aus weiter Ferne, verschiedene Glocken. Dann erst kommen sie zu den Streichern auf die Bühne. Ich wollte so das Wunder symbolisieren, daß in einem abgelegenen Dorf im Kaukasus ein Genie auf die Welt kommt: Der Gnadenstrahl der Inspiration trifft aus einer anderen Welt auf das Dorf Djadjur. Am Ende des letzten Satzes gehen die Streicher (ausser dem Cello) und ein Schlagzeuger musizierend ab. Sie spielen hinter der Bühne weiter. Zwei Musiker bleiben auf dem Podium zurück : Der Cellist streicht sein Instrument nicht mit dem Bogen, sondern klopft wie ein Schlagzeuger auf das Holz, der Schlagzeuger streicht mit einem Kontrabassbogen die singende Säge. Was am Anfang 4 + 2 war, ist jetzt 2 + 4, wer am Anfang gestrichen hat, schlägt nun, und wer geschlagen hat, streicht jetzt. Nach dem Verschwinden Minas´ am Horizont hat sich die Welt verändert.

Ein nie geschehener Mord?

Minas Avetisyan wurde am 20. Juli 1928 im Dorf Djadjur, nicht weit von der Stadt Leninakan (heute: Gyumri), in der Sowjetrepublik Armenien geboren. Er starb an den Folgen eines Unfalls am 24. Februar 1975 in der Hauptstadt Erewan. Das Talent dieses Bauernbuben wurde früh entdeckt und gefördert : Er studierte an der Termelesyan-Kunstschule sowie am Institut der schönen Künste in Erewan, dann am Institut der schönen Künste in Leningrad. Dort hatte er hervorragende Lehrer (V.Iohanson, A.D.Zaitseva,L.V.Khudiakova), sowie eine schicksalhafte Begegnung mit dem vier Jahre jüngeren Erewaner Philologen Henrik Igityan, der am Repin-Institut Kunstgeschichte und Kunsttheorie studierte. Er gründete später das erste Museum für zeitgenössische Kunst in der UdSSR, sowie das erste Museum für Kinderkunst (beide in Erewan). Er wurde ein großer Unterstützer Minas´, schrieb viele Aufsätze über ihn, brachte 1975 beim Leningrader Verlag „Aurora“ den ersten Bildband heraus. Weitere sollten folgen. Nach dem Abschluß seines Studiums 1960 wurde Minas ein Arbeitsplatz in der Stadt Tscheliabinsk im Ural zugewiesen. Igityan stellte den Kontakt her zu Grigor Hasratian, dem Bürgermeister von Erewan, der besonders die zeitgenössische Kunst unterstützte. Dieser Freidenker beschaffte Minas ein Atelier in Erewan, und ermöglichte ihm dadurch die Heimkehr. Als eine Kunstkommission in Armenien seine Bilder ablehnte, dadurch seine Teilnahme an einer Ausstellung in Vilnius verhindern wollte, entschied Igityan kurzerhand, mit ihm und einigen seiner Bilder auf eigene Faust dorthin zu fliegen. Bekannt wurde Minas durch Gruppenausstellungen sowie Einzelausstellungen in vielen Städten der UdSSR (z.B. Einzelausstellung im Museum der Orientalischen Künste in Moskau 1969),sowie in Frankreich und Italien. Minas wurde schnell als „sowjetischer Fauvist“ bezeichnet. Als solcher hatte er in der UdSSR viele Widerstände zu überwinden, aber auch nicht wenige Verehrer, darunter den Doyen der armenischen zeitgenössischen Malerei, Martiros Saryan (1880-1972). Sein Ruf drang über den Eisernen Vorhang, so daß auch Besucher aus dem Westen in sein Atelier kamen. Als 1972 dort ein Brand ausbrach, wurden viele Meisterwerke zerstört. Manche sind überzeugt, der Brand sei vom KGB gelegt worden, dagegen verweisen andere auf den schlechten Zustand der elektrischen Leitungen in vielen Künstlerateliers. Dazu muß gesagt werden, daß Minas keinesfalls das war, was man einen Dissidenten nennt. Es sind keine politischen Aktivitäten oder Äußerungen überliefert. Ausserdem wird er als ruhig und seriös geschildert, er soll weder dem Tabak noch dem Alkohol zugesprochen haben, war glücklich verheiratet mit seiner großen Liebe Gayané, mit der er zwei Söhne hatte. Er arbeitete oft nachts, ging nach Mitternacht durch Erewan spazieren, klopfte dann bei manchem Freund an, um bis zum Morgengrauen Schach zu spielen, oder philosophische Diskussionen über die Kunst zu führen. Am 16. Februar 1975 fuhr er von Leninakan zusammen mit Igityan nach Erewan, um sich am Abend die Jubiläumsvorstellung von Edgar Hovhannesians Ballett „Antuni“ anzuschauen, für das er 1968 die Ausstattung gemacht hatte. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit blieb er nicht bei der anschliessenden Feier, sondern ging sofort zu Fuß nach Hause. Er wurde von einem Auto erfasst, starb eine Woche später im Krankenhaus. Es geht das Gerücht, der KGB habe ihn umgebracht. Was könnte der Grund dafür gewesen sein? Die einen sagen, allein die Tatsache, daß Minas Besuch aus dem Westen in seinem Atelier empfangen hat, wäre Grund genug. Andere behaupten, der KGB habe Bilder von Minas teuer in den Westen verkauft und Fälschungen in die Museen gehängt, also befürchten müssen, daß der Künstler früher oder später den Betrug bemerkt. Ich habe mit einigen seiner alten, engen Freunde gesprochen, die alle an einen Unfall glauben, und deswegen von den Anhängern der Mordtheorie für KGB-Mitarbeiter gehalten werden. Sie waren bei ihm während des Krankenhausaufenthaltes. Er war bei Bewusstsein, fühlte, daß seine Kräfte schwinden, wohingegen die Freunde und Ärzte die Hoffnung hatten, daß er überleben würde. Folgende Tatsachen möchte ich wiedergeben: – Daß Minas unmittelbar nach der Vorstellung das Opernhaus alleine verlassen würde, konnte niemand wissen. – Der Fahrer des Wagens hatte kurz vor dem Unfall Anhalter aufgenommen, eine Mutter mit zwei kleinen Kindern. Anhänger der Mordtheorie behaupten, eine solche „Inszenierung“ sei typisch für den KGB. Wäre es möglich gewesen, das alles so exakt zu planen? – Der Fahrer verlor durch einen epileptischen Anfall die Kontrolle über das Fahrzeug. Einige Monate später starb er an einem Tumor. Manche sagen, es sei typisch für den KGB, solche Menschen als Ausführende auszuwählen. – Minas ging auf dem Trottoir. An der Unfallstelle war (und ist) der Gehsteig sehr hoch. Der Wagen konnte nicht einfach auf den Gehweg fahren, sondern kam ins Schleudern. Wie diese Schleuderbewegung verlaufen, wie genau der Wagen Minas erfassen würde, war nicht berechenbar. – Minas wurde von dem schleudernden Auto gegen die Hauswand gedrückt. Er starb eine Woche später an inneren Verletzungen. Am 24.Februar 1975 verlor die Welt mit Minas einen großen Künstler. Posthum wurde ihm der Armenische Staatspreis verliehen. Seine Bilder wurden dann im Rahmen von Gruppenausstellungen sowjetischer Künstler in der ganzen Welt gezeigt. Nicht auszudenken, was er uns allen noch an berührenden Bildern geschenkt hätte!